Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Thomas Derksen


Abgestandene Luft, Langeweile in den Gesichtern meiner Klassenkameraden und das Kratzen von Kreide auf der grünen Tafel. Es ist ein normaler Mittwochnachmittag in meinem Leben als Gymnasiast in einer Kleinstadt im Bergischen Land. Doch dieser Tag soll meinen Lebenslauf grundlegend verändern. Es klopft an der Tür und herein kommt Dr. Thomas Täubner, Absolvent unseres Gymnasiums und promovierter Sinologe. Zusammen mit seiner chinesischen Frau Xuemei stellt er sein geplantes Projekt vor: „Wir möchten eine Chinesisch-AG anbieten und wollten nachhören, ob es Schüler gibt, die Interesse daran haben.“ Ohne nachzudenken hebe ich die Hand.

13 Jahre später stehe ich im Anzug und mit wackligen Knien in der Volkskongresshalle in Beijing und sehe, wie unser Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping den Empfang mit militärischen Ehren abnimmt. Ich bin Teil der Delegation beim Antrittsbesuch des Bundespräsidenten in der Volksrepublik.

Die 13 Jahre sind wie im Fluge vergangen und doch ist so viel passiert: Dr. Täubner nimmt uns nach zwei Jahren Chinesischunterricht mit auf einen Schüleraustausch nach China. Und so spaziere ich im Jahr 2007 das erste Mal über die Chinesische Mauer, esse Baozi in den Hutongs Beijings und bestaune gemeinsam mit chinesischen und internationalen Touristen die Skyline Shanghais. Danach entscheide ich mich, Wirtschaft und Politik Ostasiens sowie Chinesisch zu studieren. Während meines Studiums in China lerne ich meine jetzige Frau kennen. Meine Erfahrungen als ausländischer Schwiegersohn in einer chinesischen Familie verarbeite ich dann auch in einem Video – welches über Nacht in den chinesischen sozialen Medien viral geht. Da merke ich zum ersten Mal, wie wichtig doch Völkerverständigung im eigentlichsten Sinne des Wortes ist. In Zeiten, in denen die politische Diskussion alles bestimmt, braucht es Menschen auf beiden Seiten, aus beiden Kulturen, die Brücken bauen, dort wo die Gräben immer tiefer werden.

Wir leben in einem Jahrhundert, in dem wir durch das Internet und Soziale Medien verbundener sind denn je. Und die Werkzeuge, die uns zur Verfügung stehen, möchte ich in meiner Arbeit nutzen. Durch Videos über mein Leben in China und Deutschland, nehme ich das chinesische Publikum mit auf Reisen durch mein Leben zwischen den Kulturen. Egal ob es ein Trip mit meinen chinesischen Schwiegereltern nach München, ein Besuch bei dem Schafhirten Baoluri in seiner Jurte in der Inneren Mongolei oder die Dokumentation über die Arbeit eines deutschen Bäckers mit taubstummen Mitarbeitern in Changsha, Hunan, ist – durch die Linse meiner Kamera zeige ich den Zuschauern Momentaufnahmen aus dem Leben deutscher und chinesischer Mitmenschen.

Im Jahr 2018 begleite ich eine chinesische Mittelschülerin aus Sichuan bei ihren Vorbereitungen zur Teilnahme an der Deutsch-Olympiade in Xi’an. Den Kontakt hat die Deutsche Botschaft in Beijing hergestellt, denn Spracherwerb ist das Werkzeug in interkultureller Kommunikation. Als ich die Schülerin sehe, wie sie in der Nachmittagshitze Chengdus in ihrem Klassenraum unregelmäßige deutsche Verben lernt, erfüllt mich das mit Melancholie. Vor einigen Jahren saß auch ich in meiner kleinen Studentenbude im Ruhrgebiet und schrieb ein chinesisches Schriftzeichen neben dem anderen in mein Übungsheft. Wo wird diese Schülerin, die sich den deutschen Namen Eva ausgesucht hat, in zehn Jahren sein? Vielleicht wird sie in Deutschland für die chinesische Botschaft arbeiten? Oder sie wird Ingenieurin bei einem deutschen Automobilhersteller in Beijing? Wo auch immer das Leben sie hinführen wird, sie wird die Sprachkenntnisse und Erfahrungen, die sie mit und in Deutschland gemacht hat, immer mit sich mitnehmen und diese in ihr Umfeld tragen.

Und auch ich trage China immer im Herzen und auf der Zunge. Wenn ich in meine deutsche Heimat zurückkehre, beantworte ich gerne die vielen Fragen zu meinem Leben und Arbeiten in China. Es ist die der fremden Kultur entgegengebrachte Neugier, die mich optimistisch macht für die Zukunft. Solange wir uns gegenseitig Fragen stellen und im Dialog miteinander stehen, bin ich mir sicher, dass die deutsch-chinesischen Beziehungen stabiler und intensiver werden.

Die Neugierde am Exotischen, am Unbekannten, hat dazu geführt, dass ich an dem besagten Mittwochnachmittag ohne zu zögern meine Hand hob und mein Interesse an der Chinesisch-AG bekundete. Und tatsächlich lernte ich über die Jahre, dass diese Offenheit und das Schauen nach links und rechts viele Möglichkeiten eröffnen. Durch meine Arbeit in den Sozialen Medien habe ich in den letzten Jahren viele Freunde in Deutschland und China dazugewonnen. Ich habe Videos in chinesischer Sprache über Essen, Reisen, Kultur und Sprache gemacht. Auf Deutsch habe ich Geschichten aus meinem Leben zwischen China und Europa in zwei Büchern verarbeitet. Das alles mit dem Ziel, den Deutschen China und den Chinesen Deutschland näherzubringen.

An einem Morgen im Herbst 2018 klingelt mein Mobiltelefon und ein Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Beijing stellt sich vor. Er kommt direkt zum Punkt: „Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier plant seinen Antrittsbesuch in China und wir möchten dich einladen, Teil der Delegation zu sein.“

Nur wenige Wochen später bin ich als einziger in China lebender Deutscher zusammen mit dem Bundespräsidenten auf Reisen durch China. Wir schauen uns Pandas in Chengdu an, ich höre seine Rede an der Universität Guangzhou, und wir werden vom chinesischen Staatspräsidenten zum Dinner in Beijing geladen. Das war einer der Höhepunkte meiner interkulturellen deutsch-chinesischen Arbeit.

Und doch merke ich immer wieder, dass abseits der großen Themen Wirtschaft und Politik, die zwischenmenschlichen Beziehungen ausschlaggebend für echte Völkerverständigung sind. Bei jedem Besuch meiner deutschen Familie in China oder meiner chinesisches Freunde in Deutschland sehe ich die Überraschung in ihren Gesichtern und muss an ein chinesische Sprichwort denken: 百闻不如一见 Es ist besser, etwas einmal zu sehen, als hundert Mal zu hören.

Mit eigenen Augen, Ohren und Mündern die Kultur des anderen zu erleben. Das schafft Missverständnisse aus dem Weg, baut Brücken und schafft lebenslange Freundschaften.

Für die nächsten 50 Jahre wünsche ich mir, dass wir die Menschen wieder in den Mittelpunkt stellen. Denn ein Land besteht nicht nur aus Wirtschaft und Politik, sondern es sind Charaktere, unterschiedliche Lebensentwürfe und Individuen, die ein Land ausmachen. 

Wenn ich sehe, wie meine deutschen Eltern hoch oben in einem Shanghaier Hochhaus die Kochkünste meiner chinesischen Schwiegermutter genießen oder mein Schwiegervater im Garten meines deutschen Elternhauses seine Taiji-Übungen macht, dann ist das für mich Kulturaustausch und Völkerverständigung in seinem besten Sinne.


Über den Autor



Thomas Derksen, geb. 1988 im rheinländischen Gummersbach, hat nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zum Bankkaufmann absolviert und anschließend in Bochum und Shanghai Wirtschaft und Politik Ostasiens sowie Chinesisch studiert. Inzwischen lebt er als Vlogger und Influencer in Shanghai und betreibt zusammen mit seiner Frau Liping einen sehr erfolgreichen Social-Media-Kanal mit über 10 Millionen Followern, auf dem er regelmäßig von seinem Leben als Deutscher in China berichtet.

Mit den offiziellen deutschen Vertretungen in China hat er mehrere Videoprojekte zur Förderung der deutschen Sprache realisiert. Außerdem war er Mitglied in der Delegation beim Antrittsbesuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in der Volksrepublik China.

Er ist Autor der Bücher „Und täglich grüßt der Tigervater – Als deutscher Schwiegersohn in China“ und „Kartoffelbrei mit Stäbchen – Mit meiner chinesischen Familie auf Hochzeitsreise in Europa.“ Des Weiteren ist er Co-Host des Podcasts „Marketing Made in China“.