Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Prof. Dr. Kristin Shi-Kupfer & Shi Ming


Shi Ming

Anfang der 1970er. In meiner Heimatstadt Beijing tobte noch die Kulturrevolution. Eins ihrer Merkmale für mich als Jugendlicher war unvergesslich: Es gab kaum ausländische Spielfilme, schon gar nicht aus Europa. Anfang der 1970er Jahre wurde es anders. Die ersten Filme, meist Partisanenfilme, kamen. Tollkühne Partisanen bekämpften den bösen Feind – die Deutschen. Wir Jungs liebten solche Filme heiß und innig, ohne zu wissen, inwiefern diese  historische Realität wiedergaben. Uns war es auch egal, ob Jugoslawen, Albaner, Rumänen, sie alle kämpften gegen den einen Feind: die deutschen Wehrmachtsoldaten und -offiziere.

Ob man es glaubt oder nicht, damals beeindruckten uns gerade die wenigen Deutschen in den Filmen, nicht mit dem, was sie taten, sondern wie sie uniformiert waren; wie sie, ohne eine Miene zu ziehen, „mannhaft“ sich bewegten, etwa mit den Köpfen. Ein bisschen Wippen links oder rechts, begleitet mit Befehlen wie: „Komm her“, „abführen“, „erschießen“, Schicksäle werden augenblicklich entschieden. Damals, wenn solch ein Film zu Ende war, strömten aus Kinos wir Jugendliche. Eifrig gaben wir uns mit den passenden Kopfbewegungen untereinander zu verstehen:  „Komm her“, „abführen“ oder „erschießen“.

Ja, so war es Anfang der 1970er Jahre. Erst viele Jahre später erfuhr ich von der Aufnahme der diplomatischen Beziehung zwischen China und der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1972. Hatte dies mit meinen ersten Eindrücken der ruckartig mit den Köpfen wippenden Deutschen etwas zu tun?

Kristin Shi-Kupfer

1972 war ich noch nicht geboren. Aber auch ich war eine Jugendliche, als ich zum ersten Mal bewusst mit China in Kontakt kam.

Am 5. Februar 1991 sah ich die Folge „Die Kinder von Tiananmen-Platz“, Folge 7 der Staffel 5 um genau zu sein, der US-Serie „MacGyver“. Ich war ein großer Fan des trickreichen Privatdetektivs mit dem Schweizer Taschenmesser, der im Namen der Phoenix Foundation um die Welt reiste, um zu versuchen, sie ein bisschen besser zu machen. In der Folge steht MacGyvers chinesisches Patenkind Su Ling – nun eine junge Dame, mit der er per Brief in regelmäßigem Kontakt stand – plötzlich vor seiner Hausboottür. Sie sagt, sie könne in den USA studieren. Es stellt sich schnell heraus, dass es die beste Freundin seines Patenkindes ist – Su selbst ist während der Niederschlagung der Protestbewegung auf dem Tiananmen-Platz erschossen worden.  Ihre beste Freundin hatte ihr viel von MacGyver erzählt, sodass sie nun die Gelegenheit nutzte, ihn zu bitten, ihr dabei zu helfen wichtige Beweise der blutigen Niederschlagung am Tianamen-Platz in den USA in Sicherheit zu bringen.

Wie ich später erfuhr, hatte der Produzent der Serie die Folge kurz nach den realen Ereignissen aufgenommen und wollte damit ein Zeichen setzen. Als 15-Jährige hatte ich den Fall der Mauer vor dem Fernseher miterlebt, dieses Wunder der friedlichen Revolution. Nun sah ich junge Chinesinnen und Chinesen, kaum älter als ich, die bereit waren, für das zu sterben, was ihnen wichtig war. Das bewegte mich so sehr, dass ich direkt in unsere Stadtteilbibliothek ging und mir alle dort verfügbaren Bücher über die Protestbewegung – immerhin drei – auslieh. Einige Zeit später ebbte das Interesse ab, aber Fragen blieben: Was bewegte diese jungen chinesischen Studierenden? Wie anders, aber auch wie gleich sind sie im Vergleich mit jungen Menschen hier?

Shi Ming

Anfang der 1990er Jahre. Ich zog gerade in eine Mansardenwohnung in Köln Nippes ein. Bedingt durch beklemmende politische Ereignisse ein Jahr zuvor begann für mich unfreiwillig ein Leben in der Fremde.

Vom ersten Tage an begrüßte mich ein gewisser Herr Thelen, wenn er mich vor der Wohnung sah, herzlich, fast theatralisch: „Maikl‘,“ rief er mir zu. Ich konnte diesem Urkölner zweihundertmal erzählen, mein Name heiße „Ming“, ein Wort, das in seinem Dialekt Kölsch „mein“ bedeutete. Dennoch bestand Herr Thelen, mein Hausmeister, darauf, mich „Maikl‘“ zu nennen, um den er sich so rührend kümmerte: Er achtete darauf, dass in meiner kleinen Wohnung nichts fehlt. Falls doch, sprach er mich lächelnd an: „Maikl‘, du broichst ‚nen Nachttisch, ne? Kann ich dir bill’ge besorgen.“ Oder: „Maikl‘, du broichst ‚nen Spiegl‘, ne? Kann ich dir bill’ge besorgen;“ usw. Briefe brachte er mir direkt vor die Wohnungstür. Wenn er mir etwas Ungewöhnliches anmerkte, von Müdigkeit bis Depression, blickte er mir schweigend so lange in die Augen, bis ich ihm offenbarte, was mir fehlt. Natürlich kann er dies und jenes immer „bill’ge“ erledigen.

Wir haben fast nie über Politik gesprochen, weder über die chinesische noch die deutsche. Und doch bat er mich eines Tages geheimnisvoll in seine Wohnung mit einem breiten Fenster zur Straße. „Maikl“, flüsterte Herr Thelen mit angespannter Miene, er habe seit zwei Tagen verdächtige Figuren vor unserem Haus beobachtet. Diese kämen immer entweder kurz bevor ich nach Hause kam oder kurz danach. „Maikl‘, soll ich die Polizei rufen? Du musst auf dich besser aufpassen, ne? Wegen 1989?“

Das war das einzige Mal für unsere nachbarschaftliche Beziehung, in die die Politik einstrahlte. Das einzige Mal, das ich nie vergessen kann.

Kristin Shi-Kupfer

Ich zog Anfang September 1996 in ein Zweier-Zimmer des Wohnheims für ausländische Studierende an der Fudan-Universität ein. Ich hatte mir eine nicht-europäische Zimmergenossin gewünscht – es war eine Koreanerin – um möglichst viel Chinesisch sprechen zu können. Mit chinesischen Studierenden zusammen in einem Gebäude zu wohnen, war – leider – nicht möglich. Sie lebten unter viel einfacheren Bedingungen und zu acht oder zu zehnt – auf einem Zimmer. Wir konnten uns besuchen, aber nicht übernachten. Wir waren räumlich weit voneinander getrennt, aber dennoch entstanden Freundschaften.

Chinesische Nachbarn hatte ich zum ersten Mal 2007, ich war als akkreditierte China-Korrespondentin des österreichischen Magazins Profil nach Beijing gezogen. Ich hatte mir ein einfaches chinesisches Wohnviertel ausgesucht, wo kaum Ausländer (allerdings eine sehr gute, halbchinesische Freundin) wohnten. Ich wollte richtig eintauchen in den chinesischen Alltag.

Ein älteres Ehepaar im Nachbargebäude grüßte mich immer herzlich, wenn ich das Gebäude verließ oder nach Hause kam. Bald blieb ich immer mal wieder stehen und wir lernten uns besser kennen. Herr Wang und Frau Zhu waren Mitte 60, sie hatten in ihrer Wohnung im Erdgeschoss ihre beiden Kinder großgezogen, die Tochter kam regelmäßig mit dem Enkelkind vorbei. Die beiden halfen mir, wenn ich eine Frage hatte, krank war oder auf der Suche nach einem Handwerker war.

Herr Wang war auch mein erster Lehrer für den Beijing-Dialekt, ein Zungenschlag mit so reichhaltigen, bewusst überdramatisierenden, kommentierenden und leicht süffisanten Humor. Einer unser Lieblingssätze wurde die Bemerkung „Schon wieder unterwegs?!?“, mit dem mich auch bald weitere ältere Nachbarn liebevoll bedachten. Sie fragten allerdings interessanterweise nie nach, wo und warum ich – ja Journalisten, was sie wussten – unterwegs war. Es war wie eine stille Übereinkunft und vielleicht der Garant für unsere herzliche Verbindung.

Shi Ming

2007, im Oktober. An einem herrlichen Herbstnachmittag saßen wir zu Dritt nahe der Dom-Terrasse zum Rhein. Zwei Hochschulprofessoren und ich. Wir tranken Biere, Apfelsaftschorle und am Ende noch Kaffee. Unser Gesprächsthema: Die deutsche Wissenschaftspolitik.

Der eine merkte gleich an, wie sehr diese Politik kurzatmiger und -fristiger geworden sei. Man könne in der Wissenschaft doch nicht Erfolgen in Monaten nachjagen, immer nach Marktwert, wie das eine oder andere Mal bei den Amis, oder? Der andere kritisierte konkret, wie sehr die deutsche Forschungspolitik an der Realität vorbeisegle. MP3, nannte er als Beispiel, sei doch eine deutsche Erfindung. Und am Ende machten aber die Japaner und Amerikaner das Rennen. Das gleiche passiere auch mit der Idee, alternative Energien in industriellem Ausmaß zu revolutionieren. Aber da schlügen die Engländer uns jetzt schon um Längen, etwa mit ihrer Carbon Capture Storage Technology…usw. usw.

Irgendwann merkten meine deutschen Freunde meine Einsilbigkeit, die sie beide beunruhigte: „Shi Ming“, sagte der eine, „was meinst du, was wir Deutsche falsch gemacht haben.“ „Ja“, ergänzt der andere „du bist schon so lange bei uns. Du siehst es bestimmt klarer, als wir selber.“

Das, was ich ihnen gesagt habe, hat sie beide zuerst sprachlos gemacht: „Liebe Freunde, in diesem Jahr allein habt ihr Deutschen zweimal den Nobelpreis bekommen, einmal in der Chemie und einmal in der Physik. Und ich habe euch beiden den ganzen Abend zugehört, wie ihr dennoch eure Forschungspolitik auseinandergenommen habt. Wisst ihr eigentlich, wie viele Jahre wir Chinesen nur davon träumen, einmal einen Nobelpreis in einem der naturwissenschaftlichen Fächer zu bekommen?“

„Ach, bitte, entschuldige uns Deutschen. Wir meckern zu viel, oder? Das ist wirklich bei uns schon ein Nationalsport geworden, entschuldige vielmals.“

„Nein“, antwortete ich: „Ich grüble die ganze Zeit darüber, was euer kritischer Geist gegenüber der eigenen Politik und Gesellschaft mit euren Erfolgen in Wissenschaft zu tun hat. Heißt es nicht, dass die Wissenschaft nichts dringender und elementarer braucht, als einen kritischen und unabhängigen Geist? Und ich frage mich: sollen wir Chinesen nicht besser an eurer Meckerei ein Beispiel nehmen?“

Kristin Shi-Kupfer

2009, im Februar. An einem klaren, lauen Winternachmittag – lau deshalb, weil ich im Süden Chinas, in Shenzhen, weilte – saß ich mit fünf jungen Wanderbeitern auf kleinen Hockern rund um einen kippligen, runden Holztisch unter freiem Himmel.

Die vier oder fünf Teller mit Fleisch- und Gemüsegerichten und auch der große Pot mit Reis waren blank gegessen, Wang Chunqiao, der Kopf dieser Freundesgruppe, hatte gerade noch eine Runde Bier bestellt, als er sich mit der Hand vor die Stirn schlug. „Mensch, heute ist doch Laternenfest (der erste Vollmond im neuen Jahr nach dem chinesischen Mondkalender), wir müssen alle unbedingt noch Tangyuan (Klößchen aus klebrigen Reismehl) essen.“ Wang bestellte, ohne uns alle weiter zu fragen, für jeden eine kleine Schüssel mit drei Klößchen. Die vorher noch munter plaudernden und herzlich lachenden jungen Männer wurden plötzlich still. Mir wurde schnell klar warum. Tangyuan klingt ähnlich wie „tuanyuan“, sprich Wiederzusammenkommen (innerhalb der Familie) und diese Klebreisklößchen isst man traditionell am Ende der Feierlichkeit zum Neujahrsfest mit seiner Familie zusammen.

Das Neujahrsfest ist traditionell die Zeit, in der sich auch die Wanderarbeiter zu ihren Familien aufmachen, oft mehrere Tagesreisen entfernt von ihrem Arbeitsort. Meist kündigen sie vorher oder die Anstellung war eh temporär und sie können so über die Feiertage eine kleine Pause einlegen.

Wang und seine Kollegen waren in jenem Jahr nicht nach Hause gefahren. Es fehlte ihnen das Geld, aber auch die Ruhe. Sie hatten noch vor dem Neujahrsfest mit einem Streik und anschließender Schlichtung, ihre Fabrik dazu gebracht, auf ihre Forderung zur Auszahlung der letzten drei Gehälter in voller Höhe einzugehen. Aber sie hatten diese noch nicht ausgezahlt bekommen. Also haben sie das Fest ohne ihre Familien verbracht.

„A-ya wir sind jetzt eine Familie“, muntert Wang seine Mitstreiter auf, „und wir haben eine neue große Schwester kennengelernt.“ „Meinst du denn, wir kriegen jemals das Geld?“, fragt einer der anderen Wang. „Wenn nicht, dann streiken wir eben noch mal, wir haben es doch schon einmal geschafft“, entgegnet Wang. „Und was, wenn sie uns alle entlassen oder gar verhaften?“, fragt ein anderer. „Dann haben wir es versucht und nicht aufgegeben“, meint Wang Chunqiao und beißt in seinen letzten Klebreiskloß, „darauf kommt es doch an.“

Es waren und sind Menschen wie Wang, die mich nicht haben aufgeben lassen.

Shi Ming

2018. Zum Anlass 25 Jahre Städtepartnerschaft zwischen Berlin und Beijing wurde ich gebeten, etwas zu schreiben, was beide Städte jenseits des Materiellen verbindet. Hier ist meine Antwort:

Mit verfliegenden Jahren schwinden oftmals Erinnerungen. Und mit Erinnerungsschwund jenes Gefühl, das einen an seine Heimat bindet, etwa mich an meine Heimatstadt Beijing. Und doch: Mein Gedächtnis arbeitet makellos. Noch. Nur die Gegenstände, an die meine Erinnerungen gebunden sind, verschwinden. Die engen Gassen, Hutongs genannt, etwa. Meistens abgerissen. Ein Teil fake-renoviert und zum Kitsch degradiert. Verschwunden sind auch Garküchen. Wegen Gefahr der Luftverschmutzung. Schlendere ich abends, wenn ich wieder daheim bin, durch Straßen, kann ich nur noch selten meiner Nase folgen, um in einem der Lokale einzukehren, wo mein Herz lacht, noch ehe mir die Speisekarte präsentiert wird. Die brauche ich nämlich gar nicht.

Bitte versteh mich nicht falsch: Ich bin immer noch stolz, Beijinger zu sein, nicht weil Stahl-Glas-Konstruktionen meine Heimatstadt heute bewalden. Noch weniger, weil meine Landleute dort besseren Wohlstand schon eine ganze Weile genießen. Und ich will mich Huldigern scheinbar für ewig fortwährender „Fortschritte“ genauso wenig anschließen. Der Hauptgrund für mich, ein stolzer Beijinger zu sein, liegt mir auf der Zunge. Jene Zunge kannte man in meiner Wahlheimat Berlin auch - als die Berliner Schnauze, die sarkastisch, mürrisch, im Kern oft so entlarvend Menschen aus der Seele spricht.

So auch meine Beijinger Zunge! Gern erinnere ich mich an Onkel und Tanten in der Gasse meiner Großmutter, die, wenn ich als Dreikäsehoch zu frech wurde, mir entgegen schnauzten: „Steige nicht auf die Stirn, wenn du mir schon auf der Nase tanzt.“ Solche Zunge, ähnlich wie die Berliner Schnauze, ist nicht jeder Manns Geschmack. Legendär wird sie oft dennoch, gar noch für jene, die Beijinger oder Berliner als „unfreundlich“ wenn nicht „arrogant“ empfinden. Nicht zuletzt wegen der überzogenen Theatralik, gepaart mit cooler Miene.

2012 suchte im Sommer ein Wolkenbruch Beijing heim. Binnen zweier Stunden waren alle Prachtstraßen unter Wasser. Bedroht waren alle U-Bahnen. Binnen 20 Minuten, als dies geschah, erschien auf unzähligen Smartphones in Beijing ein Witz, getarnt als Stationsansage: „Liebe Fahrgäste, der nächste Halt ist Jishuitan (wo das Wasser ansammelt). Der übernächste Halt ist Jishuitan. Der überübernächste Halt ist Jishuitan…“ Und binnen weniger als einer Minute antwortete darauf eine andere Stationsansage: „Liebe Fahrgäste, für Schwimmer unter Euch ist der nächste Halt Shuilifang (wo das Schwimmstadion ist). Für Nichtschwimmer ist der nächste Halt Babaoshan“ (wo das Krematorium ist).

Gewiss: derart sarkastischen, bisweilen fatalistischen Humor gibt es woanders auch. Er wird woanders auch geliebhasst. Und doch: Die Beijinger Zunge, wie die Berliner Schnauze, liefert immer noch für Chinesen wie für Deutsche ein Modell zum Nachahmen. Der Sachse Erich Kästner wurde berühmt wegen seiner Erzählung „Drei Männer im Schnee“, wo der Dichter eifrig zu berlinern sucht. Kulturhistorisch liefert die Beijinger Zunge die Grundlage für die einzige Bühnenkomikkunst in ganz China – die Xiangsheng – um zwei Beispiele zu nennen.

Was die Berliner Schnauze mit der Beijinger Zunge verbindet, also uns Deutsche wie Chinesen, ist nicht bloß eine Art zu sprechen, vielmehr eine urbane Lebenshaltung: Gerade wenn es hart wird, gerade wenn das Leben einem wehzutun beginnt, fängt dein Mut an, wenn du die bedrückendste Realität beim Namen nennst, unverhüllt bis unerschrocken.

Ich bete: Möge uns allen solch ein Geschenk lange beschieden bleiben.

Kristin Shi-Kupfer

2022. Meine Heimatstadt Hattingen hat noch keine Partnerstadt in China. Die Mentalität der Hattinger würde vielleicht gut zu einer der kleineren ehemaligen Industriestädte im Nordosten Chinas passen. Auch dort haben sich die Bewohner ihre Direktheit und Offenheit bewahrt, ihre Altstadt haben sie vermutlich – ähnlich wie auch in Beijing – verloren, zu rückständig und zu wenig funktional, so lautet in China zu oft das Urteil. Das ist Gott sei Dank in Hattingen anders.

Als Kind des Ruhrgebiets liegt mir die etwas rauere, unverblümte und zupackende Art vieler Nordchinesinnen und -chinesen. Die, meines chinesischen Namensvetters Gu Shifu (Meister Gu), ein junger Handwerker aus Liaoning, der sich mit einem kleinen Reparaturservice am Eingang meines damaligen Wohnviertels in Beijing niedergelassen hatte. Er kam in meine Wohnung und begann ohne viele Worte mitten in der Küche meinen Kühlschrank nahezu komplett auseinanderzunehmen, bis er den Fehler gefunden hatte. Oder Taxifahrer Wu, ein waschechter Beijinger, der auf meine damals üblich Frage, ob er je nach Verkehrsaufkommen eher den 3. oder den 4. Ring fahren würde, antwortete: „Ich höre auf dich – so wie ich auf die Partei höre.“ Oder die Musikerin Regina Zhu. Das einstöckige alte Haus ihrer Eltern sollte im Zuge der Olympischen Sommerspiele abgerissen werden. Diese harrten aber als eine der wenigen dort noch aus, da sie keine ordentliche Entschädigung bekommen hatte. So schickte ihnen der Immobilienentwickler und/oder die lokalen Polizisten in einer Nacht- und Nebelaktion Skorpione und Schläger ins Haus. Sie verjagte mit 3 Freundinnen die Schläger, fing die Skorpion ein und verkaufte sie an ein Restaurant.

Wie viele mutige, liebevolle, kluge, tatkräftige und hoffnungsvolle Chinesinnen und Chinesen durfte ich kennen lernen. Mögen viele Deutsche ähnlich gesegnet werden, wie ich durch solche Begegnungen und Freundschaften.


Über die Autor:innen



Kristin Shi-Kupfer ist Professorin für gegenwartsbezogene Sinologie mit dem Schwerpunkt digitale Medien an der Universität Trier und Senior Associate Fellow am Mercator Institut für Chinastudien in Berlin.

Sie beschäftigt sich mit Politik und Gesellschaft Chinas, speziell Chinas digitale Entwicklung, gesellschaftliche Gruppen und digitale Medien, Medien- und Medienpolitik sowie Menschenrechte und Religion (speziell Christentum) in der Volksrepublik.
Von 2007 bis 2011 arbeitete Shi-Kupfer als China-Korrespondentin für deutschsprachige Printmedien (u.a. für Profil, epd, Zeit online und Südwest Presse) in Beijing.


Shi Ming: Freischaffender Journalist und Publizist, geboren in Beijing. Er lebt seit
1987 in Deutschland. Seit 1990 arbeitet er für die ARD, ZDF, Deutschlandfunk, Deutsche Welle, diverse Printmedien wie SZ, FAZ, taz, Die Welt, Die Zeit, Neuer Zürcher Zeitung, Le Monde diplomatique, etc. Herausgeber des Buchs "Denken im modernen China" (geplanter Erscheinungstermin: Mai 2023).