Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Hildegard Müller


Chinas Aufstieg muss für uns Ansporn sein

Vier Tage nach Ende der Olympischen Spiele in Peking begann die völkerrechtswidrige Invasion Russlands in die Ukraine. Seit dem Kriegsausbruch ist vieles anders – Politik und Wirtschaft wurden in ein neues geopolitisches Zeitalter katapultiert. Von einer Zeitenwende sprach anschließend Bundeskanzler Olaf Scholz. Wir erleben seitdem hautnah, wie sich das internationale Kräfteverhältnis verschiebt und auch der Einfluss der Volksrepublik China weiter anwächst. Dies stellt Politik und Wirtschaft vor neue Herausforderungen. Zudem wirft der Krieg in der Ukraine politisch schwierige Fragen auf: Wie gehen wir mit autoritären Staaten um, wie erreichen wir die notwendige Effizienz und Resilienz, um geostrategisch relevant zu bleiben und unseren Wohlstand zu sichern?

In diesem Kontext rücken China und unser Verhältnis zur Volksrepublik immer stärker ins Zentrum der politischen Debatte. Bereits im Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP auf die Ausarbeitung einer neuen Chinastrategie der Bundesregierung verständigt: „Um in der systemischen Rivalität mit China unsere Werte und Interessen verwirklichen zu können, brauchen wir eine umfassende China-Strategie in Deutschland im Rahmen der gemeinsamen EU-China Politik.“ Die Entwicklung einer solchen Strategie ist auch aus Sicht der Automobilindustrie wichtig. Denn letztlich geht es bei der Neuformulierung der China-Strategie auch um eine eventuelle Neuausrichtung unserer Industriestrategie angesichts der enormen Bedeutung des chinesischen Absatz- und Bezugsmarktes. Deshalb beteiligen wir uns an der Debatte intensiv.

Resilienz stärken – keine Abschottung

Die Antwort auf das künftige Verhältnis zu China kann und darf keine Abkehr von der Globalisierung sein. Einfach raus aus China – das ist nicht die Lösung. Dafür sind das Land und seine politische und wirtschaftliche Bedeutung zu groß. Und ebenso falsch wäre, China zu isolieren. Das wäre naiv – und ebenso sowohl politisch als auch wirtschaftlich fatal. Der Angriffskrieg von Putin bedeutet im Gegenteil, dass wir mit noch mehr Ländern reden und zusammenarbeiten müssen. Wir müssen dabei natürlich stärker diversifizieren und Abhängigkeiten reduzieren. Ich werde nicht müde, zu wiederholen: Wir brauchen mehr Rohstoff-, mehr Energie- und mehr Handelsabkommen. Es geht nicht, über ein Jahrzehnt lang mit Kanada über CETA zu verhandeln und wenn alles fertig ist, noch einmal nachverhandeln zu wollen. Wir brauchen eine Offensive für mehr rechtssichere Abkommen. Andere Staaten sind sehr aktiv, wenn es darum geht, sich Zugänge zu Rohstoffen und zu Energie zu sichern. Wir sind zu oft nicht dabei, sind viel zu langsam und verschlechtern damit zunehmend die Wettbewerbsbedingungen für Europa und damit auch für unsere Industrie. Es geht um den Wohlstand Europas in der Zukunft.

Die Frage des Verhältnisses zu China geht weit über die Autoindustrie hinaus. Insgesamt beobachten wir auf der Welt fundamentale Veränderungen: Bislang hat die Ökonomie politische Veränderungen begleitet, unterstützt und stabilisiert. Die Tatsache, dass man wirtschaftlich im Gespräch war, hat auch politische Tatsachen geschaffen. Jetzt erleben wir, dass Geoökonomie von einigen als politische Strategie eingesetzt wird. Das ist eine Veränderung, über deren Folgen wir uns in Europa gerade erst bewusstwerden.

China – der wirtschaftliche Wettbewerber

Mit seinen mehr als 1,4 Milliarden Einwohnern ist China heute das bevölkerungsreichste Land der Erde und eine wirtschaftliche Supermacht. Wenn ich an China denke, dann denke ich an die Mega-Cities, die allein in ihrer schieren Anzahl weltweit ihresgleichen suchen. Ich denke an den Einfluss Chinas in der Welt, der durch interkontinentale Projekte wie die „Neue Seidenstraße“ immer weiter ausgebaut wird. China drängt in alle Teile der Welt, investiert global und will überall seinen Einfluss geltend machen. Und ich denke an China als größten Markt bzw. einen entscheidenden Markttreiber für Elektromobilität.

China ist inzwischen zudem selbst ein wichtiger Innovationsstandort – für heimische Unternehmen, aber auch für Unternehmen aus aller Welt. So liegt beispielsweise der Bestand an Direktinvestitionen deutscher Unternehmen in China bei 90 Milliarden Euro. Bei vielen Zukunftstechnologien strebt China die Technologieführerschaft an. Das Tempo, das China dabei vorlegt, muss für uns in Deutschland und Europa Ansporn sein. Wir müssen alles daransetzen, auch schneller zu werden. Nicht nur bei den Technologien selbst, sondern auch bei den politischen Rahmenbedingungen, die Innovationen überhaupt erst ermöglichen.

China – der bedeutende Handelspartner

China ist für uns jedoch nicht nur ein Konkurrent – China ist für uns vor allem auch ein wichtiger Handelspartner. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Automobilindustrie. Für uns hat China in den vergangenen zwei Dekaden enorm an Bedeutung gewonnen. Der chinesische Pkw-Markt ist mit über 20 Mio. verkauften Einheiten pro Jahr mit deutlichem Abstand der größte Pkw-Markt weltweit. In keinem anderen Land der Welt produzieren die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie mehr Pkw als in China – im Jahr 2021 waren es 4,3 Mio. Pkw. Vor zwanzig Jahren waren es noch knapp 438.000 Pkw. Dazu kommen fast 270.000 Pkw, die jährlich aus Deutschland nach China exportiert werden. Jeder dritte Pkw mit dem Logo einer deutschen Konzernmarke wird in China abgesetzt. Der automobile Warenhandel Deutschlands mit China hat ein Gesamtvolumen von 33,6 Mrd. Euro. Damit ist China nach den USA der wichtigste Handelspartner für automobile Waren. Deutschland hat dabei einen erheblichen Handelsüberschuss: Es exportierte im Jahr 2021 automobile Waren im Wert von 30,1 Mrd. Euro nach China und importierte automobile Waren im Wert von 3,5 Mrd. Euro.

China hat für die deutsche Automobilindustrie – und auch für andere Bereiche der deutschen Wirtschaft – inzwischen also eine herausragende Bedeutung. Als Verband der Automobilindustrie haben wir das früh erkannt und sind dort mit mehreren Büros vertreten. Wir wollen die regulatorischen Rahmenbedingungen in China und den chinesischen Markt für die Unternehmen der deutschen Automobilindustrie transparenter machen. Dazu stellen wir Kontakte zu Behörden, Verbänden und Institutionen her und stellen ihnen Informationen zur Verfügung. Wir sorgen dafür, dass wir mit gemeinsamer Stimme unserer Mitglieder auftreten, indem wir entsprechende Projekte initiieren, begleiten und die Ergebnisse nach außen repräsentieren. Wir wollen vor Ort eine Stimme sein, die sowohl die großen Hersteller vertritt als auch die vielen hoch innovativen Zulieferunternehmen, die sich inzwischen mit Standorten in China angesiedelt haben.

Die Zahlen zeigen: China ist ein Treiber der Weltwirtschaft – und für die deutsche Industrie ein wesentlicher Absatz- und Beschaffungsmarkt. Umso wichtiger ist eine starke deutsche und europäische Wirtschaft, damit wir in dem Dialog mit China, in dem Kräftemessen, entsprechend auftreten können: Die deutsche Industrie will zu gleichen Bedingungen mit China kooperieren. Die deutschen Unternehmen wollen im fairen Wettbewerb die wirtschaftliche und technologische Entwicklung in beiden Ländern vorantreiben. Dafür brauchen wir mehr Handel, mehr Partnerschaften, mehr Vernetzung – vor allem auch breiter und vielfältiger.

50 Jahre deutsch-chinesische Beziehungen – ad multos annos

China hat durch die intensiveren wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland und anderen westlichen Nationen stark profitiert. Ein wichtiger Schritt für das Land. Zur Wahrheit gehört aber auch: Nicht nur China hat profitiert. Die Partnerschaft zwischen Deutschland und China, die über die vergangenen 50 Jahre ausgebaut wurde, hat auch dazu geführt, dass in Deutschland Wachstum, Wohlstand und Beschäftigung entstanden sind. Ein Abbruch der Beziehungen mit China wäre wirtschaftlich und geostrategisch folgenschwer für Deutschland. Wir sehen in der aktuellen Situation, dass es wichtig ist, Abhängigkeiten abzubauen. Immer nur auf einzelne Partner zu setzen, kann fatale Folgen haben. Wir sollten es aber vermeiden, uns komplett abzuwenden. Ein einfacher Schnitt durch die Beziehungen zwischen beiden Staaten wäre ein Schritt, der beiden Ländern großen Schaden zufügen würde – und uns in Deutschland möglicherweise stärker beschädigen würde als China.

Die Krisen unserer Zeit – von der Pandemie, die zur Anspannung der globalen Lieferketten führte, bis zu Russlands schrecklichem Krieg in der Ukraine – sind kein Beweis, dass die Globalisierung gescheitert ist. Vielmehr sollten sie für uns Zeichen sein, dass wir die Chancen durch globale Verflechtungen noch viel intensiver nutzen und unsere Partnerschaften stärker diversifizieren. Wir brauchen mehr Rohstoff- und Energiepartnerschaften, mehr Handels- und Investitionsabkommen. Natürlich müssen wir dabei darauf achten, dass unsere Partner Menschenrechte, soziale und ökologische Standards achten.

Die deutsche Automobilindustrie unterstützt die Einhaltung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten und legt hieran hohe Standards an. Zahlreiche deutsche Unternehmen in China unterziehen sich zudem externen CSR-Audits und kooperieren vor Ort mit chinesischen NGOs. Über die deutsche Botschaft in Peking unterstützt die Bundesregierung Unternehmen bei der Umsetzung der Leitprinzipien und Kernelemente des Nationalen Aktionsplans Menschenrechte (NAP).

Deutsche Zulieferer und Hersteller engagieren sich im Branchendialog Automobilindustrie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und arbeiten dort aktiv an der Aufstellung von Grundsätzen zur menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht in Unternehmen mit. Der übergeordnete Anspruch dieses Dialogs ist, den Schutz der Menschenrechte in globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten zu stärken. Nachteilige menschenrechtliche Auswirkungen, die durch die Geschäftstätigkeit deutscher oder in Deutschland ansässiger Unternehmen verursacht werden, sollen reduziert und damit Verbesserungen vor Ort in den Produktionsländern erreicht werden.

Durch unser Handeln wollen wir dazu beitragen, dass diese Standards und Werte in die Welt getragen werden. Wir müssen Chancen ergreifen und zur selben Zeit unsere Verantwortung ernst nehmen. In der Industrie und der Politik.


Über die Autorin



Hildegard Müller, geboren 1967, ist seit dem 1. Februar 2020 Präsidentin des VDA. Müller absolvierte vor ihrem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eine Ausbildung zur Bankkauffrau bei der Dresdner Bank. Zuletzt arbeitete sie bei der Dresdner Bank als Abteilungsdirektorin.
Von Oktober 2002 bis Oktober 2008 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages. Zudem war sie von 2005 bis 2008 Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin.

Frau Müller übernahm im Oktober 2008 das Amt der Vorsitzenden der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. in Berlin. Ab Mai 2016 war sie Mitglied des Vorstands der innogy SE und verantwortete das Ressort Netz & Infrastruktur sowie die Koordination der Digitalisierungsprojekte.