Deutsch-Chinesisches Dialogforum
2023

Dieter Ernst


Wie ich China erlebt habe

Erste Erfahrungen

Zwei Jahre nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik China schaute ich, damals noch Student, von Hongkong aus über die Grenze nach China und sah: nichts – eine weite, unbebaute, geheimnisvolle Landschaft.  Einmal in Hongkong war mir aber wichtig, wenigstens einen Blick in dieses unbekannte, riesige Land werfen zu können.

Die ersten persönlichen Eindrücke bekam ich 1992, als ich für die DSE (Deutsche Stiftung für Internationale Entwicklung) die Kooperation der Stiftung mit der chinesischen Bürgermeistervereinigung evaluieren durfte. Diese Aufgabe führte mich in verschiedene chinesische Städte. Weil man an einer Fortsetzung des Programmes interessiert war, wurde mir bei diesem Anlass jeder Wunsch erfüllt. Sogar der damals unverzichtbare politische Kommissar, der uns ständig begleitete, hielt sich dezent im Hintergrund. Bei einer Vielzahl von interessanten Begegnungen lernte ich ein Land kennen, das noch wenig durch westliche Einflüsse beeinflusst war. Außerdem wurde mir die Größe und Vielfältigkeit Chinas bewusst, sehen wir doch meist nur die großen Zentren, wenn wir über China sprechen.

Als ich mit meiner Familie ein Jahr später China privat bereiste, war es für meinen damals siebenjährigen Sohn (blond, blauäugig) ein unvergessliches Erlebnis – er wurde auf der Chinesischen Mauer über Stunden wie ein Wunder angeschaut, an den blonden Haaren berührt, so wie ein Star um zahlreiche Fotos gebeten. Ein westlicher Besucher war auf dem Land noch eine kleine Sensation.

Schaute man in Shanghai am Bund über den Huangpu Fluss, sah man hinter sich gefühlt eine Million Fahrradfahrer und vor sich auf der Pudong-Seite nichts als Reisfelder. Und in Peking waren wir glücklich, einen richtigen Kaffee zu bekommen, weil McDonalds gerade eröffnet hatte.

Um China zu verstehen, muss man sich immer wieder einmal vergegenwärtigen, dass dieses Land nicht nur eine der ältesten Kulturnationen der Welt ist, sondern keine 30 Jahre gebraucht hat, um nach einem beispiellosen Modernisierungsprozess mit einer Verfünfzehnfachung seines BIP heute ganz vorne in der ersten Liga der global einflussreichen Nationen mitzuspielen. Diese rasante Entwicklung hat die heutige chinesische Gesellschaft enorm geprägt.

Business in der VR China

Schon 1978 hatte das ZK der KP Chinas erste marktwirtschaftliche Reformen beschlossen. Der eigentliche Beginn dieser schnellen Entwicklung, der Liberalisierungsschub, begann aber erst 1992, als nach dem Einschnitt durch die gewaltsame Niederschlagung des Protestes auf dem Tianmen Platz 1989 Deng Xiaoping die Notwendigkeit seines Reformkurses auf der Southern Tour 1992 („don't care if the cat is black or white, so long as it catches mice") vielen Funktionären vor Ort vermittelt hat und Ian Zemin die „Sozialistischen Marktwirtschaft“ propagierte.  Zu dem Zeitpunkt fand China wieder den Anschluss an die Weltwirtschaft, eine Entwicklung, die auch von der deutschen Wirtschaft und der Bundesregierung mit Helmut Kohl stark unterstützt wurde.

Sehr hilfreich für die damit verbundenen Prozesse war das zentral parteigeführte System Chinas, in dem politische Entscheidungen teilweise sofort in weiten Teilen des Landes umgesetzt werden konnten. Ein Beispiel bietet der Umgang mit der dramatischen Verschmutzung der Flüsse als Folge des schnellen und ungezügelten Wirtschaftswachstuns. Diese Kloakenbildung erreichte ein Ausmaß, durch das die chinesische Regierung 2002 gezwungen wurde, den Bau von Kläranlagen in allen größeren Städten (das bedeutet in China mehr als 5 Millionen Einwohner) anzuordnen. Ich war damals CEO der Berlinwasser International AG und wir hatten schon 1998 das erste große Projekt mit der Erweiterung der Wasserversorgung in Xian erfolgreich durchgeführt. 2002 konnten wir dann erleben, dass sich buchstäblich am Tag nach der Order aus Peking viele Bürgermeister um Kläranlagenprojekte bemühten. Gleichzeitig wurde der Markt generell für private Kooperationen und Betreibermodelle geöffnet, sodass auch eine realistische Möglichkeit bestand, schnelle und nachhaltige Erfolge zu erzielen. Das gab uns die Möglichkeit, mit Berliner Knowhow die erste große Kläranlage Chinas (mit der dreifachen Größe der Berliner Anlagen) in Nanchang zu bauen, die nach ihrer Fertigstellung von vielen Delegationen und interessierten Fachleuten aus dem ganzen Land besucht und zur Vorlage für eigene Projekte genutzt wurde.

Eine Anekdote bei dieser umweltpolitisch so wichtigen Maßnahme war das Thema Klärschlamm, der bei großen Anlagen in erheblichen Mengen anfällt. Man hatte schlicht vergessen, die Entsorgung dafür zu reglementieren. Alle unsere Hinweise bei der Projektentwicklung nutzten nichts, es hieß immer, wir sollten uns darüber keine Gedanken machen. Als die traditionelle Methode, den Schlamm als Dünger auf den Feldern zu verteilen, schnell ausgereizt war, füllten Berge von Klärschlamm jeden noch freien Platz auf der Anlage. Dann wurden sehr schnell Verbrennungsanlagen gebaut.

Unter Hinweis auf den erlebten fast grenzenlosen Pragmatismus der Chinesen gab es bei uns ein geflügeltes Wort: "Das lösen wir chinesisch". Dieser Ausdruck kam immer dann zum Tragen, wenn ein Problem schwierig oder konventionell nach unseren Maßstäben eigentlich nicht lösbar war.

So gab es beispielsweise bei dem großen Projekt in Xian wie auch bei unserem Kläranlagenprojekt in Nanchang durch archäologische Funde beziehungsweise die Vogelgrippe eine erhebliche Bauverzögerung. Sie musste wieder aufgeholt werden. Was tat unser chinesischer Baupartner? Über Nacht wurden 1.500 weitere Bauarbeiter organisiert, zwei große Feuerstellen für die Essensversorgung geschaffen sowie Zelte für die Ruhezeiten aufgebaut und die verlorene Zeit konnte tatsächlich wieder eingeholt werden. Bei vielen Schwierigkeiten jedweder Art war dieser Pragmatismus häufig hilfreich.

Unverzichtbar war natürlich auch die Kenntnis der Regeln des Umgangs miteinander: „Guanxi“ – auch heute noch ein wichtiger Faktor für den Erfolg in China und ein Beispiel für die Verbindung zwischen Tradition und Moderne. Wenn man es einmal geschafft hat, ein wirkliches Vertrauensverhältnis auf der Basis von gegenseitigem Respekt mit einem Partner zu erreichen, dann ist diese Beziehung durch wenig zu erschüttern und langfristig beständig. Aber zunächst muss man sich auf sein Gegenüber einlassen, Hierarchien und Interessenlagen verstehen und die Balance zwischen Geben und Nehmen beachten. Dann aber wird man aus diesem Verhältnis heraus weitere Beziehungen entwickeln können.

Unser Team hat sich das Verständnis für diese Regeln schnell zu eigen gemacht, was durch die schon frühe Einbeziehung chinesischer Mitarbeiter erleichtert wurde. Daher ist uns in vielen Fällen die Lösung komplexer Probleme gelungen, ob in der Politik, bei den Verwaltungen, den Partnern oder Zulieferern. Unsere Aktivitäten in China mit einem Investitionsvolumen von ca. 100 Mio. Euro waren sehr erfolgreich, auch weil wir mit unserer Expertise Probleme der Chinesen lösen und sehr schnell Wissen vermitteln konnten.

Dennoch mussten auch wir lernen, dass in China unterschriebene Verträge nicht als abgeschlossen, sondern ganz selbstverständlich als veränderbar und anpassbar verstanden werden - eine Logik die für uns Deutsche erst einmal sehr fremd war. Sie hat aber den Vorteil, dass man nicht erst endlose Juristendiskussionen über die bestehenden Vereinbarungen führen muss, wenn Flexibilität gefragt ist, sondern man gleich über Lösungen sprechen kann. Daher ist der gegenseitige Respekt besonders kritisch im Geschäft – um mit diesem Modell zum Erfolg zu kommen ist Voraussetzung, dass zu dem Gegenüber ein entsprechendes Vertrauensverhältnis besteht und man ein gemeinsames Ziel verfolgt.

Nach meiner Beobachtung war die Missachtung dieser Grundsätze chinesischer Regeln des Miteinanders ein wesentlicher Faktor, warum mancher Mittelständler nach anfänglicher China - Euphorie dem Land ernüchtert und ohne Erfolge wieder den Rücken gekehrt hat. Die Chancen der rasanten Marktentwicklung in China nutzen zu wollen, aber einfach wie in den heimischen Märkten zu agieren, war und ist kein Erfolgsrezept.

Bei den persönlichen Begegnungen spielte seinerzeit anlässlich der Geschäftsessen der Konsum von nicht wenig Alkohol eine wichtige Rolle. Dabei kam uns zugute, im Vergleich zu unseren chinesischen Partnern bekanntlich trinkfest zu sein. Unsere charmante Juristin war hier eine wichtige Stütze, die nicht nur chinesisch lernte, sondern auch eine trinkfeste und fröhliche Karaoke-Sängerin war. Aber als dann teure westliche Weine (die inzwischen auch in nicht schlechter Qualität in China angebaut werden) in Wassergläsern auf den Tisch kamen, schmerzte es den Weinliebhaber schon, den Inhalt eines ganzen Glases wiederholt mit einem fröhlichen „Ganbei“ auf Ex trinken zu müssen.

Das China von heute ist ein anderes und man hat Mühe, neben aller Modernität noch etwas von dem „alten“ China zu finden, aber das ist ein eigenes Kapitel.  Geblieben sind u.a. zwei Grundbedürfnisse in der Bevölkerung: Neben dem Streben nach Wohlstand die Verpflichtung wahrnehmen zu können, sich um die Eltern zu kümmern. Vor diesem Hintergrund ist die aktuell sehr rigide Coronapolitik ein Problem, weil die totale Abschottung ganzer Millionenstädte nicht nur Todesopfer fordert und Teile der Wirtschaft lahm legt, sondern auch Millionen Chinesen daran hindert ihre Eltern zu besuchen. Das daraus folgende Unruhepotential ist schwer abzuschätzen.

Fazit

Es steht außer Zweifel, dass die Lösung globaler Herausforderungen, egal ob Klima, Energie, Ernährung, Rohstoffe oder Frieden, weder in einer geteilten Welt noch ohne eine Beteiligung der Volksrepublik China im Ergebnis wirklich erfolgreich sein kann. Wir haben daher ein eigenes Interesse, dass China seine Rolle und eigene Verantwortung zur Lösung globaler Themen auch aktiv wahrnimmt.

U.a. die ungeheuer schnelle Innovationsentwicklung in China bietet aber auch für Europa große Chancen, in Kooperationen gemeinsame Lösungen für die Zukunft zu entwickeln (z.B. findet zum Thema fahrerloses Fahren aktuell ein harter Wettbewerb zwischen chinesischen Städten mit Echtzeit-Demoprojekten statt, wer dabei der erste ist. Spätestens 2030 soll ein Anteil von 30% des Verkehrs fahrerlos abgewickelt werden).

Es bedarf daher einer klugen Strategie und Diplomatie für alle Beteiligten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, auf allen Ebenen im Gespräch zu bleiben, die gegenseitigen Interessen zu erkennen und möglichst viele Gemeinsamkeiten zu entwickeln. Vielleicht wäre es eine Aufgabe für die deutsche Politik, die verschiedensten Akteure für eine solche Zielsetzung noch mehr zu vernetzen.

Chinesen denken sehr langfristig, wir sollten es auch tun!


Über den Autor



Jurist,  Anwalt, MdB-Assistent, Staatsanwalt, gewähltes Mitglied des Bezirksamts Berlin Tiergarten, Staatssekretär Senatsverwaltung für Wirtschaft Berlin, Vorstand Berlinwasser Holding, Vorstandsvorsitzender Berlinwasser International AG, seit Anfang der 90er Jahre regelmäßige Chinabesuche, u.a. Koop mit chinesischer Bürgermeistervereinigung, BWI-Tochtergesellschaft in Shenzen, viele Jahre Mitglied im Vorstand und Präsidium des OAV (German Asia-Pacific Business Association), Vorstandsvorsitzender des Vereins der Europäischen Akademie Berlin e.V.